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DIGITAL- UND MEDIENMANAGEMENT / GASTGESPRÄCHE

Evolution statt Revolution - Ein Gastgespräch mit Dr. Rainer Esser

von ANTONIA WOLFRAM am 25.02.2021

Unsere Medienmanager*innen treffen Dr. Rainer Esser. Der Geschäftsführer ist nun seit 22 Jahren im ZEIT-Verlag. Er selbst betitelt sich als Dinosaurier. Der Begriff meint im Altgriechischen so viel wie „gewaltig“ oder „schrecklich“. Passender: gewaltig erfolgreich! Denn die ZEIT hat heute eine so große Auflage wie nie zuvor. Woran liegt das und auf welchen strategischen Vorteil setzt er als Geschäftsführer des ZEIT-Verlages?

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Wir treffen Rainer Esser digital in seinem Büro in Hamburg an. Hinter ihm erkennen wir eine Wand, bebildert mit den Titelseiten der ZEIT. Ein bisschen Platz für weitere Titel sei noch übrig, doch wenn alle vier Wände voll sind und selbst die Decke keinen Platz mehr für neue Titel hat, „dann schauen wir mal weiter“. Er schätzt, es hätten noch rund 4 Jahre Platz. Die aktuelle Durchschnittstemperatur im Büro der Geschäftsführung liegt bei 10 Grad, aufgrund regelmäßigen Stoßlüftens. Für die Publikationen empfinde Esser es als wichtig, dass man sich unter gegebenen Sicherheitsvorkehrungen persönlich sieht. „Auf Zoom-Konferenzen könne man sich austauschen und informieren. Kreativität entsteht aber doch eher, wenn man zusammen sitzt und lacht.“

Wie geht es der ZEIT in diesen besonderen Zeiten?
Esser berichtet, die Auflage von knapp 550.000 wachse seit 20 Jahren kontinuierlich an. Dieses Jahr liegt sie 70 bis 80 Tausend des Vorjahres. Dazu kommen noch 12 erfolgreiche Magazine. Auf eine Ertragsperle, ZEIT Reisen müsse man aktuell verzichten. Doch dafür steige nun die Nachfrage nach dem E-Learning Angebot der ZEIT Akademie. Mit ZEIT Online wurde ein großer Fundus für neue Abonnements geschaffen – Digital und Print. Der Einzelverkauf würde sich jedes Jahr verkleinern, doch jetzt liegt auch dieser 20 Prozent über dem Vorjahr.

Warum ist die ZEIT gerade jetzt so erfolgreich wie noch nie?
Esser erklärt uns: „Corona hat selbstverständlich was damit zu tun, sonst hätte die ZEIT nicht die dramatische Auflagenentwicklung. Die Menschen sind zu Hause und haben mehr Zeit zu lesen. Da lesen sie dann lieber die Marken, die sie gut kennen, zu denen sie Vertrauen haben. Zudem war während der Corona-Zeit weiterhin Action im Haus. Konferenzen fanden vor Ort statt und unsere Leute lachten miteinander und das merkt man dem Blatt an, es ist so lebhaft wie eh und je und es hat eine große Bandbreite an Themen.“
Hinzu käme, dass „alles gerade richtig gut in Shape war, als Corona kam.“
Schon vor der Krise wurden besonders schöne und aufwendige Artikel hinter einer Paywall versteckt. Corona brachte der ZEIT eine starke Digitalreichweite, bei der man Lesende gut in ein Abo überführen konnte.

Was unterscheidet das Vorgehen der ZEIT von anderen Häusern?
Die ZEIT mache sich sehr viel Gedanken über den Markt und über die Leser*innen und auch darüber, wie sie stetig wachsen könnte. Nicht wie so oft darüber, wie man sparen könnte. „Unser Erfolgsrezept ist eigentlich, dass wir uns keine genauen Größen nehmen. Wir fragen uns eher wie können wir wachsen? Einfach nur wachsen, das ist unsere Strategie.“
Die ZEIT hat heute 325 Redakteure, als Esser begann waren es 90. Mit Giovanni di Lorenzo sei man mit den Lesenden auf Augenhöhe, man tausche sich mit der Community aus und trifft die Freunde der ZEIT auch persönlich. „Das Ziel von Giovanni und mir ist, das wir permanent Neues machen, uns permanent neu erfinden – Im Zusammenspiel mit unseren Kollegen aus der ZEIT und auch mit unseren Lesern.“ Die ZEIT lebe den offenen Diskurs und arbeitet interdisziplinär. Online und Print arbeiten Hand in Hand miteinander, obwohl es zwei unterschiedliche Redaktionen sind. Ausprobieren, weiterentwickeln und wachsen. So spricht sich Esser in seinem theoretischen Vorgehen für Evolution statt Revolution aus.

Und wie kam Rainer Esser zum ZEIT-Verlag?
Eigentlich wollte Esser Lehrer werden, für Latein und Sport. Doch dann wurde es eine Bankenlehre in Hannover, ein Jura Studium in München, Genf und London, ein kurzes BWL-Studium, Auslandspraktika in Washington, Paris und London. Ein Master of Law in den USA und die Promotion in Regensburg. Angekommen in den Tiefen des Strafprozessrechts konnte er sich nicht vorstellen mit dem Thema glücklich zu werden. In seiner Altbau-Wohnung in München beschließt er einer Tätigkeit nachzugehen, die ihm mehr Glück verspricht: Journalismus. „Am liebsten wollte ich Auslandskorrespondent für die Süddeutsche oder FAZ in Rom oder Washington sein“.
Der Jurist versuchte sein Glück an der Deutschen Journalismus Schule – und er bekam einen der begehrten Plätze. Er spricht von seiner guten Zeit in München und lacht dabei. Nachdem er sich nun auch Journalist nennen konnte, stieg er als Rechtsanwalt in großen Kanzleien in Hamburg ein, dann als Chefredakteur, danach als Geschäftsführer des Spotlight Verlages, als Geschäftsführer bei der Main-Post und schließlich 1999 bei der ZEIT.

Von den 10 Grad aus seinem Büro bekommen wir im Gespräch übrigens nichts zu spüren. Wir erleben Esser mit den motivierenden Abschiedsworten „Bleiben Sie alle neugierig und hauen sie rein, hauen sie rein!“, als offen und inspirierend.

Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute.