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MEDIA INNOVATION PROGRAM

Astrid Csuraji: „Jede Redaktion braucht Menschen, die Spaß an Technologie haben“

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Astrid Csuraji hat mit Jakob Vicari vor vier Jahren tactile.news gegründet – ein Innovationslabor für Journalismus. Der Name ist Programm, denn die beiden HMS-Coaches entwickeln innovative Ideen für modernen Journalismus. So haben sie sich auch an eine neue Software gewagt. 100eyes soll die Journalist*innen wieder näher an die Nutzer*innen bringen. Zuhören ist das Schlüsselwort. Wir haben mit Astrid über diese Dialogsoftware und das Gründen selbst gesprochen.

Astrid Csuraji, bei eurem Start-up tactile.news habt ihr 100eyes entwickelt – kurz gesagt: eine Software, mit der Journalist*innen direkt Kontakt mit Nutzer*innen aufnehmen können. Was ist 100eyes genau?


Astrid Csuraji: 100eyes ist eine Dialog-Software, so nennen wir das. Wir haben darin die verschiedenen Messenger-Dienste wie Signal, Telegram, Threema und E-Mail miteinander verknüpft. Es ist ein Kommunikations-Powerhouse für Redaktionen. Denn: Die Redaktionen können mit 100eyes Fragen an die Leute verschicken, mit denen sie kommunizieren wollen. Das Tolle: Die Fragen werden dorthin zugestellt, wo die Menschen am liebsten erreichbar sind, nämlich in ihren Messengern oder in ihrem Mailprogramm. Und von da aus antworten sie auch. Die Redaktion bekommt dann alles übersichtlich gesammelt in einem Thread-Verlauf und muss eben nicht ganz viele Dienste einzeln bedienen – das macht 100eyes für sie und spart viel Arbeit.



Wie seid ihr auf diese Idee gekommen?


Astrid: Wir wollen die Kommunikation zwischen Journalist*innen und Nutzer*innen verbessern. Und die Ausgangsidee ist, dass niemand in die Redaktion kommen oder sich eine Redaktions-App herunterladen muss, sondern die Redaktion geht dahin, wo die Leute sind, wo sie mit Freunden, mit Nachbarn oder Kolleg*innen gerne kommunizieren. Nicht auf Social Media, wo auch viel Hate ist, sondern in Messengern, wo wir mit Freunden sprechen und wo wir uns konstruktiv unterhalten.



Warum muss die Kommunikation zwischen Journalist*innen und Nutzer*innen verbessert werden?


Astrid: Ich bin überzeugt, dass der Journalismus, so wie wir ihn seit Jahrzehnten lernen, vorbei ist. Wir sind nicht die allwissenden Erzähler*innen, die die Zeitungen vollschreiben oder die Programm machen und davon ausgehen, dass es irgendjemanden da draußen gibt, den das interessiert und der dafür auch noch Geld ausgibt. Wir müssen Leuten ausgiebig zuhören – dieses Zuhören haben wir verlernt. Außerdem ist wohl Teil unserer Journalisten-DNA, dass wir alles selbst recherchieren. Aber es gibt Menschen, die viel mehr wissen als wir. Darum müssen wir uns auch viel mehr darum bemühen, mehr Menschen zuzuhören. Nur so kommen wir weg von unseren Bubbles und den immer gleichen Zitaten und den immer gleichen Nasen in der Zeitung.



Warum ist eine gute Kommunikation zwischen einer Redaktion und den Nutzer*innen wichtig?


Astrid: Es kann das Produkt nur verbessern, wenn wir unseren Nutzer*innen mehr zuhören. Und das geht nur, wenn wir mehr Fragen stellen. Die Idee hinter 100eyes ist genau das: Stelle eine Frage an 50 Menschen gleichzeitig und lerne aus deren Antworten. Sie sorgen dafür, dass deine nächste Frage anders lauten wird, als du es dir vorgenommen hast. Und für die Teilnehmer*innen deines Gesprächs ist 100eyes auch eine gute Erfahrung. Es ist nämlich kein nerviger Gruppenchat auf WhatsApp, in dem alle alles mitlesen, sondern ein schlankes Eins-zu-eins-Gespräch, ein Vertrauensraum für persönliche Gespräche. Mit Hilfe deiner Community in 100eyes kommen neue Sichtweisen in die Zeitung, in die Sendung, in meinen Newsletter. Und du bist näher am Puls derjenigen, für die du Journalismus machen willst.



Aus den Dialogen können also Geschichten entstehen. Wäre es denn auch möglich, daraus neue Angebote zu kreieren oder eine neue Strategie zur Monetarisierung zu erstellen? Das sollte Redaktionen ja genauso beschäftigen.


Astrid: Bevor Redaktionen 100eyes einsetzen, müssen sie sich fragen: Was ist unsere Haltung? Warum wollen wir überhaupt Dialog? Fast alle sagen dann: Wir wollen neue Abos generieren, wir wollen wachsen, wir wollen neue Zielgruppen für uns erschließen. Das ist ein relevantes Ziel für die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen. Um dahin zu kommen, muss man Vertrauen aufbauen. Und bereit sein, sein Produkt zu verändern. Also die Idee „Ich wachse, weil ich jetzt einfach mehr Leuten mein altes Produkt schmackhaft mache“, funktioniert nicht.



Mit 100eyes habt ihr als Journalist*innen eine Software entwickelt. Wie ist dieser Schritt gelungen?


Astrid: Natürlich bin ich als Journalistin nicht diejenige, die die Software bauen kann, aber ich verstehe das Bedürfnis, Journalismus an neue Zielgruppen zu liefern, gute Inhalte z.B. ins Kinderzimmer zu bringen. So haben wir bei tactile.news angefangen, wir wollten Nachrichten für Kinder auf Tonieboxen bringen. Damals haben wir bereits mit Entwickler*innen zusammengearbeitet und daraus ist viel entstanden. Unsere Programmierer*innen finden den Ansatz einer gut informierten Gesellschaft total überzeugend und sagen: Dafür muss es irgendwie Lösungen geben.



Würdest du sagen, man braucht als Journalist*in mehr Software-Skills?


Astrid: Nein, das ist ein Trugschluss. Ich glaube, man muss als angehende*r Journalist*in rausfinden, was man gut kann. Und das sollte man dann richtig, richtig gut intensivieren. Allerdings braucht meiner Meinung nach jede Redaktion Menschen, die Spaß an Technologie haben, weil Technologie unseren Beruf interessanter macht. Sie macht ihn leichter und besser. Technologie ist nicht unser Feind, sondern unser Freund, wenn wir sie uns zunutze machen. Dafür muss ich verstehen, was ein echtes Problem ist, was ein echtes Bedürfnis ist, und versuchen, eine Lösung dafür zu entwickeln. Und da müssen Journalist*innen eben mit Programmierer*innen zusammenarbeiten, manchmal aber auch mit Game-Designer*innen oder Grafiker*innen. Also es kann ja ein sehr unterschiedliches Team sein. Es sind nicht immer die gleichen Leute, die da zusammensitzen, und über verschiedene Disziplinen hinweg zusammenarbeiten und Lösungen entwickeln. Das gehört, finde ich, jetzt einfach zu unserem Job dazu.



Welchen Tipp gibst du Journalist*innen, die gründen wollen?


Astrid: Erstmal würde ich sagen: Super, wenn Journalist*innen gründen wollen. Mehr davon! In unserer Branche wird immer noch viel zu wenig gegründet. Mach nicht den Fehler und fang mit der Lösung an. Fang mit einem Problem an, das dir groß genug erscheint und kläre, ob es eine Lösung braucht. Manche Gründer*innen entwickeln mit viel Energie und Geld eine fancy Lösung, auf die keiner gewartet hat. Besuche Weiterbildungsprogramm wie hier das Journalism Innovators Program (JIP). Danach, wenn du kannst, lass dich fördern, zum Beispiel vom journalismus lab NRW, dem Medialab Bayern oder dem MIZ in Babelsberg. Es gibt Anschubfinanzierung, Coaching und Strukturen. Als Gründer*in brauchst du außerdem ein interdisziplinäres Team. Das beinhaltet heute fast immer Programmierer*innen, bei uns aber auch Game-Designer*innen, Grafiker*innen und Audio-Spezialist*innen. Und verliert euch nicht in Brainstormings, arbeitet lieber zügig an Prototypen aus Pappe und Tesakrepp, die ihr testen könnt. Das Feedback möglicher Nutzer*innen ist Gold wert. Nehmt sie vom ersten Tag an mit. Sie sollten in Zentrum eurer Aufmerksamkeit stehen und kein Add-on sein.