HMS - BLOG

DJ-Dozent Johannes Meyer über Journalismus: Einhörner, Zebras und Social Economy

von JOHANNES MEYER am 15.05.2020

Disclaimer: Nie waren Nachrichtenportale, Zeitungen und TV-Magazine so gefragt wie in diesen Tagen. In den sozialen Medien explodiert die Zahl an neuen Formaten – und es wird so viel geklickt und gestreamt wie noch nie. An Schöpfergeist mangelt es dem Journalismus und den Medien derzeit nicht. Alles läuft gut, könnte man meinen. Doch die Branche leidet. Die Corona-Pandemie wirkt flächendeckend auf fast jedes Medienhaus im Land. Die ohnehin schon nicht kleinen Probleme der Branche verschärfen sich unter dem Brennglas der Epidemie, denn die Gleichung von Nachfrage und Angebot geht nicht so einfach auf. Spar- und Hilfsprogramme sind die Folgen. Viele Redaktionen und Medien sehen sich in der Existenz bedroht. Für Journalist und HMS-Dozent Johannes Meyer ist das Grund genug, sich über den Journalismus der Zukunft und über neue Formate Gedanken zu machen, damit Kreativität Chancen bekommt und nicht verloren geht. Er findet, die Szene müsse sich mehr an der Social Economy orientieren und zu einer eigenen Gründungsgrammatik kommen.

MG 5930

Johannes Meyer ist Dozent im Studiengang Digital Journalism.

Der Journalismus der Zukunft – ein Appell

Zebras, Einhörner, Journalisten. Für manche Menschen, auch für viele Journalisten, scheint ein Zusammenhang dieser drei Lebewesen vollkommen sinnfrei zu sein. Tatsächlich bedarf es etwas Phantasie, aber ich helfe gerne weiter, wenn Sie etwas Zeit haben und ein paar Zeilen Geduld. Schon seit einiger Zeit treibt mich der Gedanke um, wie der Journalismus der Zukunft aussieht. Ich veranstalte Design Sprints, Hackathons und und und.Dabei spreche ich natürlich viel mit Journalisten, jung und alt: Mit Zeitungsredakteuren, Podcastern, Videobloggern ebenso wie mit den Lokalen und den Investigativen unseres Faches – ich spreche mit der ganzen Bandbreite. Zugegeben, bei manchen Gesprächen habe ich das Gefühl, ich unterhalte mich eher mit Menschen, die gerade über den Bergbau sprechen, also einer Branche, die es vielleicht nur noch ein paar Jahre lang gibt und die von alten Mythen „unter Tage“ zehrt. Doch es gibt auch die anderen:

Sie sind voller Motivation, obwohl sie vor einer ungewissen Zukunft stehen. Sie sehen aber die vielen Möglichkeiten, die sie dadurch haben. Manchmal werden sie verschrien als Technerds, als Idealisten oder Pseudo-Journalisten, weil sie scheinbar mehr Instagram als Recherche betreiben. Mein Standpunkt ist klar: Alle haben ihre Berechtigung, alle sind Kinder ihrer Zeit, ihrer Gattung oder ihres Mediums. Alle dürfen und sollen sogar kritisiert werden. Doch eines sollte uns Journalisten gemein sein: die Suche nach der Zukunft des Journalismus, quasi unserer Existenzberechtigung.


Der Journalismus hat dazugelernt

Nicht dass Sie mich falsch verstehen: ich bin nicht blind, ich sehe die Bemühung der Branche. Da ist im vergangenen Jahrzehnt viel passiert. Es gibt ganz fabelhafte Journalisten, Redaktionen und Medienhäuser, die Projekte vorantreiben, Innovation forcieren, die Spaß an Veränderungen haben. Einige haben dies sogar institutionalisiert. Und natürlich die Menschen, die Journalismus sexy machen wollen. Es scheint so, als haben wir gelernt, über den Tellerrand zu schauen: Was können wir von anderen lernen? Wie machen andere Branchen das? Wie gehen die mit neuen Zeiten um? Das finde ich eine lobenswerte Entwicklung, „weiter so“ würde ich ins Schulheft schreiben. Doch es gibt ein „Aber“. Meines Erachtens schielt der Journalismus, wenn es um Ideen geht, zu sehr auf die Start-up-Branche. Eigentlich richtig, aber doch wieder falsch. Wir schauen auf eine Branche, die dem Journalismus zusehends den Nachwuchs stiehlt und viel attraktiver, viel sexier scheint. Da klaut man gerne mal das eine oder andere Buzzword, also Schlagwort – ich auch.

Ich halte es aber wie immer in meinem Leben: ich versuche, das Gute vom Naiven zu trennen. Agiles Arbeiten, Hackathons, Design Sprints – das alles hilft dem Journalismus ungemein weiter, davon sollte es noch viel mehr geben. Aber – und jetzt komme ich endlich zu Einhörnern und Zebras: Die ganze Branche sucht händeringend nach Einhörnern, also den edlen Fabelwesen mit der weißen Mähne und dem charakteristischen Horn auf der Stirn, die durch ihre Einzigartigkeit aus der Herde herausstechen – oder um es in die Sprache der Kohlenstoffwelt zu übersetzen: Die Branche sucht nach Geschäftsmodellen, die schnellstmöglich skalieren, um für Investoren attraktiv zu werden. Ein richtiger Gedanke, wer sieht, wie schnell die Bezahlmodelle der Verlage erodieren.Wenn ich jedoch in die Portfolios so manchen Verlages schaue, frage ich mich schon: Wo ist jetzt der Journalismus? Im scheinbaren Journalismus der Zukunft finden sich Clickbaiting, SEO-optimierte Texte, Steigerungslogiken, wohin man blickt. Nichts gegen pointierte Schlagzeilen, aber alles in Maßen. In meinen Workshops und Seminaren für Journalisten machte ich dann ähnliche Beobachtungen. Für eine ganze Reihe an Talenten, die Journalist werden wollen, wirkt das wie auf mich eher abschreckend. Schade um die verlorenen Talente. Ich glaube, wir müssen da anders denken. Mir fehlt das „Und“. Was heißt das?


Startups sind nicht immer Einhörner

Wir müssen auch Zebras fördern. „Herrje!“, mag so mancher jetzt rufen. Was soll das jetzt schon wieder heißen? Journalisten müssen klar benennen, was Journalismus ist und vor allem was er will, andere sind da schon weiter. Erlauben Sie mir auch hier einen Blick zu den Start-upern. Auch dort gibt es Gründer, die anders denken. Gründer, die sagen, dass Impact zählt, also der Einfluss auf die Gesellschaft. Das ist, was sie mit Journalisten gemeinsam haben. Sie nennen sich Zebras in Abgrenzung zu den gehypten Einhörnern. Ihr Anliegen ist die Gesellschaft. Zebras sind schwarz-weiß, Einhörner sind nur weiß. Einhörner stehen ausschließlich für Profit und nichts sonst.

Zebras stehen für Profit und Gemeinnützigkeit gleichermaßen. Eher für Social Business. Es ist schließlich nicht nur der Gesellschafter, der Interessen hat, sondern auch die Gesellschaft. Mit der Social Economy hat sich inzwischen eine ganz eigene Branche gebildet. Nach meinen Recherchen fehlt beiden Branchen, der Social Economy und dem Journalismus, noch eine klare Definition, was Zebras eigentlich sind, können oder sein sollen. Das könnte auch eine Chance für den Journalismus der Zukunft sein, sich eine eigene Definition des Zebras zu kreieren. Eines scheint klar zu sein, um in der Sprache der Tierwelt zu bleiben: Zebras sind agil, schnell und können selbst als Herde blitzschnell auf Gefahren reagieren. Daran können sich auch der Journalismus und die Medien orientieren.


Neues Vokabular und eine eigene Grammatik finden

Unterm Strich sollten wir uns jetzt schnell den Zebras zuwenden, ohne die Einhörner zu vernachlässigen. Wir sollten Werte und Ideale diskutieren und rasch neue Definitionen, neues Vokabular und eine eigene Grammatik finden. Gemeinsam im Gespräch mit Indie-Start-ups, mit Redaktionen, Stiftungen und Medienhäusern. Wir sollten journalistische Gründung und Projekte nicht nur allein aus ökonomischen Gesichtspunkten, aus einer Steigerungslogik heraus betrachten, sondern viele andere Aspekte hinzuziehen, um dann Bilanz ziehen. Zur Diskussion gehört auch eine kritische Betrachtung der heute allgegenwärtigen und allumfassenden Plattformwirtschaft. Denkansätze könnten dabei Anlaufstellen für sichere Software und dezentrale Plattformen sein, die unsere Grundrechte ernst nehmen, die Privatsphäre schützen und zugleich frei und offen allen zur Verfügung stehen. Ebenso wie Open Source-Lösungen oder Ideen wie die Kulturtube, welche der österreichische Medienwissenschaftler Leonard Dombusch vor Kurzem ins Gespräch brachte. Außerdem könnte über einen veränderten rechtlichen Rahmen nachgedacht werden, z. B. über ein verändertes Gemeinnützigkeitsrecht, wie viele Journalisten es schon heute fordern oder eine eigene Rechtsform.

Journalisten, Gründer, Redaktionen – wir sollten uns auf die Suche machen: quasi auf Safari begeben. Vielleicht gibt es da draußen ja noch ganz andere Tiere, von denen wir heute nichts wissen. Und es könnte keinen besseren Zeitpunkt als jetzt geben. Die Krise als Chance.