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BUNTE KISTE

Viele Köche verderben (nicht immer) den Brei

von BETTINA SCHARY am 05.08.2015

Kommentar zum Medialab "Live, mobil, interaktiv: Wie Berichterstattung heute geht"beim VOCER Innovation Day 2015

„Open journalism? Ist allen klar, was damit gemeint ist?“

Suggestiv nickend blickt sich Daniel Bröckerhoff im vollbesetzten Spiegel-Seminarraum im 1. Stock um. Alle Anwesenden (samt und sonders Redakteure, freie und Online-Journalisten) nicken zurück. Ich schüttle den Kopf.

„Ja? Gut.“ Rasch werden fünf Powerpoint-Folien übersprungen, um zum Kern des Medialabs zu kommen: „Macht eure Küchen auf!“, heißt es groß, darunter das Photo einer Restaurantküche.
VOCE Ropenkitchen2

Medialab über multimediale Berichterstattung

Open journalism ist demnach so etwas wie „open kitchen“, ein Trend in der Restaurantbranche. Dabei kann man dem Koch beim Zubereiten der Mahlzeiten zusehen. Vapiano macht das zum Beispiel, aber auch – Überraschung! – McDonald’s. Was beim Essen funktioniert, lässt sich (klar!) direkt auf den Journalismus übertragen: Der Autor lässt sich vom Leser über die Schulter gucken, ja mehr noch: Der Leser darf selbst zum Salzstreuer greifen und kräftig nachwürzen. Bloß aufpassen, dass er einem die Suppe nicht versalzt.

Open journalism wird als Konzept immer relevanter. Die Zeiten des unnahbaren Journalisten, der als anonymer Autor hinter einer gut recherchierten Geschichte saß oder bestenfalls durch seine scharfzüngige Kolumne eine begeisterte Fangemeinde genoss, sind nahezu vorbei. Zum einen, weil die Menschen sowieso schon über alles informiert sind. Der mühsam recherchierte Bericht kam schon längst als Kurzmeldung bei Twitter – was interessieren mich die Neuigkeiten von gestern?! Zum anderen spielt sich ein Gutteil des Journalismus digital ab: Als Online-Ausgabe einer Print-Zeitung, als Nachrichtensendung in einer Mediathek. Das Internet wiederum ist das Hoheitsgebiet der breiten Masse. Hier verliert der Journalist seine elitäre Stellung als wohlinformierter Herold, der das Volk über die neuesten Entwicklungen unterrichtet. Es geht eher zu wie auf einem Marktplatz: Die Nachrichten werden einander in Hochgeschwindigkeit zugebrüllt, Fakten vermischen sich mit Kommentaren, es wird gezankt, diskutiert, erörtert. Wer da den Überblick behalten will, braucht eine bestimmte Grundeinstellung – und bestenfalls ein paar Tools.

Das Publikum weiß, was kommt und gestaltet aktiv mit

Anhand ihrer beiden Unternehmen können die Moderatoren des Medialabs die Möglichkeiten von open journalism ausführlicher erläutern: David Bröckerhoff ist Redakteur bei ZDF heute+, Kathrin Weßling Redaktionsleiterin von Mit Vergnügen Hamburg. Zwei sehr unterschiedliche Ansätze, wie Journalismus heute funktionieren kann.

ZDF heute+ hat den gesamten Publikationsprozess umgekehrt: Sämtliche Themen des „heute-journals“ werden schon im Vorfeld per viral videos online präsentiert und Vorschläge aus der Community eingebunden. Somit enthält die fertige Sendung kaum Inhalte, die nicht schon vorher im Netz standen.

Mit Vergnügen Hamburg besteht im Kern aus nicht mehr als zwei festen Mitarbeitern – und den Lesern, den eigentlichen Autoren. Die Plattform finanziert sich ausschließlich über Kooperationen und schafft dadurch (in Zusammenarbeit mit den Sponsoren) neue Formate, Events oder Partys.

Klingt einfach, hip und modern – so, wie man sich die Zielgruppe von open journalism vorstellt.
VOCE Ropenkitchen1

VOCER Innovation Day 2015

„Die beste Möglichkeit, den Leser einzubinden, ist ihn selber Inhalte erstellen zu lassen“, sagt Kathrin Weßling. Am besten gehe das mit publikumsrelevanten Themen: Essen und Trinken gehe immer, danach kämen Musik und aktuelle Veranstaltungen. Wichtig sei außerdem, die Tipps der Leser wahrzunehmen und darauf einzugehen.

Bei ZDF heute+ profitiert man von dem Fakt, dass das Publikum bereits vorinformiert ist. Es wird somit einfach mit zusätzlichen Angeboten versorgt, über die sich ausgetauscht und diskutiert werden kann. Virale Geltung versus Einschaltquoten: Der Gewinner ist absehbar.

WhatsApp fasst nur 268 Chatteilnehmer, Instagram ist nur Linksharing: Was bringt’s?

Gerade für die älteren Semester ist die Online-Strategie ungewohnt. Dass plötzlich die eigene Person in den Mittelpunkt gerät, mag vielen nicht so recht schmecken. Um auf die Wünsche und Bedürfnisse der Leser eingehen zu können, die oftmals kein Blatt vor den Mund nehmen (die Furcht vor dem Shitstorm ist sehr groß!), muss man auf ihrer Wellenlänge sein, die Beweggründe verstehen. Ein enger Kontakt zur Leserschaft ist absolut notwendig. Nicht jeder Journalist ist der Typ dafür.

Außerdem erfordert diese Aufgabe viel Zeit und Energie. Und nicht zuletzt die

sinnvolle (!) Nutzung von Werkzeugen, etwa Youtube, Instagram, Twitter, WhatsApp oder Periscope (während der Session filmt Kai Diekmann live den Regen an seinem italienischen Urlaubsort). Nicht jedes Tool eignet sich für alles. Es obliegt den jeweiligen Unternehmen, sich zu überlegen, welches Hilfsmittel zweckmäßig eingesetzt werden und somit den Arbeitsprozess erleichtern kann. Daniel Bröckerhoff zählt die Fragen auf, die hierbei unbedingt gestellt werden sollen:

- Welche Möglichkeiten bietet die Plattform und wieviel Betreuung braucht sie?

- Ist genügend Personal zur Pflege der sozialen Netzwerke vorhanden? Wie steht es um die (Medien-)Kompetenz der Mitarbeiter?

- Was brauche ich (wirklich) und was davon kann ich mir tatsächlich leisten?

Merke: All diese Kanäle benötigen viel Pflege und Aufmerksamkeit und können nicht einfach so „nebenher“ betrieben werden

Das ist nun auch der abschließende Konsens des Medialabs im Rahmen des VOCER Innovation Days. Redakteure, Journalisten und freie Schreiber nicken einander einträchtig zu. Gewiss war für manche die eine oder andere Erkenntnis dabei: Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben!

Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob der Vortrag irgendeinen älteren Redakteur dazu ermutigt hat, eines von den Tools auszuprobieren. Aber virale Erfolgsgeschichten und positive Beispiele wie ZDF heute+ oder Mit Vergnügen Hamburg zeigen, wo der Trend hingeht.

Später, auf der Aftershow-Party, werde ich mich mit der Redakteurin einer Zeitschrift über Hotelrestaurants unterhalten. Sie wird mir sagen, dass sie all diese Plattformen durchaus kennt. Aber was nützen sie einem Magazin, deren Leserschaft überwiegend aus alteingesessenen Hoteliers 50 plus besteht, deren Thema „sehr nischig, sehr special interest“ ist und wo die breite Masse gegenüber dem kompetenten Bericht eines professionellen Restaurant-Kritikers nichts beizutragen hat?

Genau. Nichts.
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Photos: Jörg Müller / Agentur Focus